GIANCARLO TINAGLI

Der Bürgermeister des Pinienwaldes

„Vielleicht ist es so, dass uns die Zeit am Ende einfach nicht berührt. Oder vielleicht ist es nur der Himmel

Wenn er sich ein bisschen mehr färbt Oder vielleicht bist du es

Ein einziger Blick würde mir genügen, um mir das blaue Meer vorzustellen

Und nicht mehr.“

So singt Elisa in ihrem Stück „O forse sei tu“, das ihr den zweiten Platz beim gerade zu Ende gegangenen Sanremo Festival einbrachte. Im Videoclip sehen wir sie, in makellosem Weiß gekleidet, wie sie sich inmitten einer Natur bewegt, die jedes ihrer Worte aufzunehmen scheint und nur die Schönheit widerspiegelt.

Inmitten von Pinien, Baumstämmen, Grün, Himmel und Meer schenkt sie uns dieses kleine Glücksgefühl, „diese dumme Lust auf Leben“, was nur große Künstler schaffen. Elisa besingt die Kraft der Liebe und fragt sich, ob dieser magische Ort ein Ausdruck des geliebten Menschen ist.

Nach ihrem Auftritt beim Festival konnte der Bürgermeister von Cecina, Samuele Lippi, endlich vom Presseschweigen befreit verkünden, dass sogar eine große Künstlerin wie Elisa so von der Schönheit des Pinienwaldes fasziniert ist, dass sie diesen Ort als die ideale Kulisse für ihr Lied ausgewählt hat; hier, wo der Zauber der Liebe und der Natur sich vereinen.

Das Naturschutzgebiet Tomboli bzw. der staatliche Pinienwald, der Cecina mit Bibbona auf einer Länge von 5 km entlang der Küste verbindet, wurde 1839 vom Großherzog der Toskana, Leopoldo II., in Auftrag gegeben, um die Anbauflächen weiter im Landesinneren vor Schäden durch Salz und Seewind zu schützen.

Im Wald können wir die Kühle und die Düfte der üppigen mediterranen Macchia genießen, die Besucher auf der gesamten Route begleiten, während der von der Vegetation geschaffene Halbschatten gelegentlich von Öffnungen unterbrochen wird, die uns mit einem Blick auf das intensive Blau des Meeres überraschen. Verschiedene Pfade zweigen vom Hauptweg ab und führen bis ans Meer. Die Tomboli sind die schönen Sanddünen, die sich zwischen dem Pinienwald und dem Meer befinden und eine niedrige, komplexe Vegetation aufweisen, die überwiegend aus duftendem Stachelwacholder und phönizischem Wacholder besteht. In diesem Naturschutzgebiet erholen sich auch zahlreiche Tierarten und pflanzen sich fort, darunter Wildkaninchen, Igel, Eichhörnchen, Stachelschweine, Dachse, Füchse, Wildschweine und Rehe. Die Vogelwelt ist mit Stockenten, Purpurreihern, Spechten, Eichelhähern, Rotkehlchen und Drosseln zahlreich und vielfältig, auch dank der dort vorkommenden Wassergebiete. Die Pfade sind unbefestigt und eben, auch Ungeübte können ihnen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder zu Pferd zu folgen. In diesem Jahr war der Pinienwald zum ersten Mal Schauplatz der Canicross-Rennen, an denen 120 Paare aus ganz Italien teilnahmen.

Wie jeder Ort, der sich respektiert, hat auch der Pinienwald seinen Bürgermeister: Die Schlüssel zu dieser Welt liegen seit fast 40 Jahren in den Händen von Giancarlo Tinagli, einem ehemaligen Mitarbeiter der Italienischen Bahn und seit 2009 im Ruhestand. Er definiert sein Empfinden „Liebe auf den ersten Blick“, als er seine ersten Kilometer mit seinen Laufschuhen im Wald zurücklegte. Dies war am 26. Dezember 1983. Seit diesem Tag hat er nie aufgehört zu laufen, und der Pinienwald ist zu seinem Herzensort geworden.

Der Pinienwald birgt keine Geheimnisse, er ist seit 39 Jahren ein Refugium und der Ort meiner Wiedergeburt als Läufer. Welches Ereignis hat bei dir diese tiefe Liebe zu dieser Umgebung ausgelöst?

Ich erinnere mich gut an den zweiten Weihnachtsfeiertag 1983, nach den tagelangen Schlemmereien. An Weihnachten schaffte ich es nach einem ausgiebigen Mittagessen, einen ganzen Tartufone von Motta alleine zu verschlingen. Ich sah in den Spiegel, mir gefiel nicht, was ich sah und ich wurde schwermütig und traurig. Ich fühlte mich schuldig, also nahm ich meine Schuhe und ging laufen. Seit diesem Tag habe ich nie mehr mit dem Laufen aufgehört und nächstes Jahr werde ich meine ersten 40 Laufjahre feiern. Es gibt Menschen, die ihre Ehejahre feiern, ich hingegen feiere die Jahre meiner Kilometer. Das Laufen ist zur Leidenschaft meines Lebens geworden und der Weg, der Marina di Cecina mit Marina di Bibbona verbindet, ist der Ort, an dem ich für meine Marathons trainiere, aber es ist auch meine Zuflucht, der Ort, der mir immer Energie gespendet und mir in schwierigen Zeiten ein gutes Gefühl gegeben hat. Wie nach der Trennung von meiner Frau: nur unter den Bäumen, dem Duft des Meeres, des Holzes, nur inmitten dieser Farben konnte ich mich wohlfühlen.

Erzähle mir von einer besonderen Begegnung

 Mensch oder Tier? (lacht) Weißt du, all die Jahre habe ich alle Arten von allen gesehen. Stell dir vor, dass ich frühmorgens oft fünf Rehe treffe, zwei große und drei Kitze, wie sie in der Fachsprache genannt werden. Wir begegnen uns, sie bleiben stehen, sie sehen mich an, und dann setzen sie ihren Weg mit der ihnen eigenen Eleganz fort. Kürzlich habe ich auch eine Wildschweinfamilie getroffen, eine Mutter mit acht Jungen.

Es sind Gewohnheitstiere, sie tauchen immer bei Kilometer 2 aus Richtung Marina di Cecina auf. Menschen sind ihnen egal, sie gehen vorbei, als wäre das ganz normal. Dann gibt es noch Hunderte von Eichhörnchen. Weißt du, dass sie ihre Schwänze benutzen, um das Gleichgewicht zu halten?

Und Menschen? Ich weiß, dass dich alle kennen. 

Ich grüße alle, auf meinen Morgengruß ist Verlass. Es gibt viele Familien, die mich seit Jahren kennen, und es kommt oft vor, dass der Pinienwald zu einem Beichtstuhl wird. Ich laufe oft in Gesellschaft. Ich respektiere das Tempo anderer Menschen, ich passe mich an und halte ihren Rhythmus. Wir plaudern und erzählen uns spontan etwas. Ich habe schon alles gehört. Beim Spazierengehen wurde mir von von Liebeskummer, Hoffnungen und Arbeitssorgen erzählt. Ich habe auch mehrere Streitereien miterlebt; Menschen, die, um zu zeigen, wer schneller läuft, am Ende Beschimpfungen einstecken mussten. Aber die schönste Geschichte, die ich in meinem Herzen trage, ist die von zwei Bäckern. Ich rede von vor zwanzig Jahren: Die beiden waren Besitzer einer Bäckerei in Cecina und, wie ich, vom Laufen besessen. Der Pinienwald war ihre Bühne. Weißt du, was sie getan haben? Um 4 Uhr morgens schlossen sie die Backstube, um laufen zu gehen. Die Geschichte, die wie ein Scherz klingt, begann, als ein Freund früh in der Backstube auftauchte, um eine Schiaccia (wie wir in der Toskana Focaccia nennen) abzuholen, und sie geschlossen vorfand. Er dachte, es sei etwas passiert, vielleicht etwas Ernstes, und begann sich Sorgen zu machen, aber dann sah er sie völlig verschwitzt und in Laufkleidung zurückkommen. Also beschlossen sie, ihre Gewohnheit zu ändern: Sie stellten alles in den Backofen und nutzten die Backzeit zum Laufen. Niemand machte sich mehr Sorgen, wenn die Backstube früh am Morgen geschlossen war. Alle wussten, dass sie nicht lange wegbleiben würden. Die beiden wetteiferten miteinander, um zu sehen, wer der Schnellere war. Das war wirklich lustig; und alles, ohne die Sportuhren, die wir heute gewohnt sind. Übrigens hätten sie auch woanders laufen können, aber sie haben den Pinienwald gewählt. Dabei waren sie immer so genau und pünktlich, dass ihnen das Brot nie verbrannte. Sie hatten die Zeit zum Laufen genau auf die Backzeit abgestimmt.

Wer hat dich „Bürgermeister des Pinienwaldes“ genannt?

(Lacht)

Ich kann es dir nicht genau sagen, aber es war mehr als eine Person. Da ich jeden Tag dorthin ging, erzählten sich die Leute, ich hätte den Schlüssel zum Pinienwald. Damals war ich noch verheiratet und musste Privatleben und Beruf unter einen Hut bringen. Ich arbeitete im Schichtdienst bei der Bahn. Ich bin früher tatsächlich vor der Arbeit joggen gegangen, auch morgens um vier oder halb fünf. Den Weg habe ich mit einer kleinen Taschenlampe erleuchtet. Alles, um nicht auf meinen täglichen Lauf zu verzichten. Das, um dir zu erklären, was für mich Liebe und Leidenschaft bedeutet; wie wichtig es ist, wenn man laufen geht wenn alle anderen noch schlafen und man sich danach gut und aufgeladen fühlt. So ähnlich wie beim Liebesspiel, danach fühlt man sich gut; so fühle ich mich nach dem Lauf. Und dann das Geräusch meiner Schritte in einem schlafenden, dunklen Pinienwald, in dem nur ich einen Pfad beleuchte, der noch nicht von Menschen, sondern nur von Tieren betreten wurde. Auch wenn ich manchmal lustlos gestartet bin, sobald ich am „Tor“ ankam, ging ich hinein und fühlte mich wie ein anderer Mensch. Das gab mir immer die Energie, die ich brauchte, genau wie ein Wunder es fertigbringt Kraft zu geben.

Gibt es einen Ort, den du besonders als den deinen empfindest?

Ich liebe jeden Meter dieses Ortes, aber wenn ich mich wirklich für einen Lieblingsplatz entscheiden müsste, ist das der Teil des Pinienwaldes, der am Meer entlang verläuft. Diese 200 – 300 Meter, wo man es sehen kann; da wo das Meer etwa 30 Meter entfernt ist.

Obwohl ich ihn wie meine Westentasche kenne, bin ich immer wieder aufs Neue fasziniert. Jedes Mal sehe ich ein anderes Schauspie, vom Licht der Morgendämmerung bis zu den feurigen Farben des Sonnenuntergangs. Ich muss sagen, dass Zeit für mich unbezahlbar ist. Ich fühle mich, als wäre ich reicher als die Reichsten der Welt. Freizeit ist einer der größten Reichtümer, die ein Mensch besitzen kann. Auch wenn jemand reich ist, Milliarden besitzt, muss er sich ständig um sein Imperium kümmern und hat nie Zeit für sich selbst. Als ich nach vielen Jahren bei der Bahn in den Ruhestand ging, baten mich einige Bekannte um meine Mitarbeit; besonders eine Person, die meine Leidenschaft für den Sport kannte und mir anbot, mit ihr Sportschuhe zu verkaufen. Etwas, das mir sicher Spaß gemacht hätte. Ein solches Angebot war sicherlich nicht zu verachten, aber ich wollte meine Zeit so genießen, wie ich wollte. Ich habe diese Wahl nie bereut und bin froh, zusammen mit den Schlüsseln zum Pinienwald die Schlüssel zu meinem Wohlbefinden in der Hand zu halten.

Welche Jahreszeit bevorzugst du?

Den Frühlingsanfang. Besonders, als vor Jahren die Alpenfeilchen in Massen wuchsen, die mit ihren leuchtenden Farben den Pinienwald erhellten. Jetzt sind es leider weniger geworden, aber sie sind nach wie vor spektakulär.

Hast du eine Ahnung, wie es sein ist, diese Düfte beim Laufen einzuatmen? Eine Therapie für den Geist, für die Seele.

Und dann sind die Leute überrascht, dass Elisa unseren Pinienwald für ihr Video ausgewählt hat? Ich freue mich, dass dank ihr viele Menschen die Wunder dieses Ortes erleben.

S.A.

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